*Von Roger Spautz, Mitbegründer von Greenpeace Luxemburg und Mitglied des hohen Ausschusses für Transparenz und Information zur nuklearen Sicherheit in Frankreich.

Vertreter:innen verschiedener politischer Parteien in Luxemburg haben sich in den letzten Wochen und Monaten zur Atomkraft geäußert und sich für die Nutzung und den Ausbau der Kernenergie ausgesprochen. Stellt sich die Frage, ob Atomkraft sinnvoll ist und einen Beitrag zur Rettung des Klimas beitragen kann.

Die Kernschmelze in drei Atomreaktoren in Fukushima Daiichi im Jahr 2011 verdeutlichte die Gefahr einer Nuklearkatastrophe und die langfristigen Schäden, die ein erheblicher Austritt radioaktiver Stoffe mit sich bringen kann. Auch heute, 12 Jahre nach der Katastrophe, ist in Fukushima noch keine Normalität zurückgekehrt. Der Großteil der Gebiete um das Kernkraftwerk ist weiterhin stark verstrahlt und die havarierten Reaktoren müssen noch mindestens 30 Jahre dauerhaft gekühlt werden. Der Plan der japanischen Atomindustrie, die Reaktoren in 30 Jahren komplett abzubauen, ist eine Illusion.

Das Durchschnittsalter der weltweiten Nuklearflotte nimmt zu und damit auch das Risiko technischer Probleme aufgrund von Materialermüdung, menschlichem Versagen, zunehmender Terrorangriffe und anderer Sicherheitsbedrohungen. Hinzu kommen veraltete Sicherheitssysteme. Ständige Nachrüstungen haben nur einen Teil der aus tatsächlichen Unfällen und Zwischenfällen bekannten Risiken beseitigt, aber mit der Alterung unersetzlicher Teile und Konzepte, wächst auch das Gesamtrisiko. Die Mehrzahl der wirklich notwendigen Nachrüstungen wurden noch nicht umgesetzt oder angepasst und geraten trotz aufwendiger Studien langsam in Vergessenheit.

Beispiel Ukraine: Spielball von Konfliktparteien

Die russische Invasion in der Ukraine und die Übernahme des Kernkraftwerks Saporischschja durch die russische Armee und Mitarbeiter:innen vom Staatskonzern Rosatom haben verdeutlicht, wie Atomkraftwerke als Spielball in Konflikten eingesetzt werden können und welche Risiken bestehen. Atomanlagen sind nicht für Kriege ausgelegt und Angriffe sowie anschließende Besetzungen, wie sie derzeit in Atomanlagen in der Ukraine stattfinden, sind in jedem AKW auf jedem Kontinent möglich. Gerade bei geplanten Restlaufzeiten von bis zu 60 Jahren und darüber hinaus können kriegerische Handlungen gegen kerntechnische Anlagen nicht ausgeschlossen werden.

Die Menge an hochradioaktivem Abfall auf der Erde wächst – und noch immer existiert keine sichere Lösung für seine Entsorgung. Derzeit sind etwa 300.000 Tonnen hochradioaktiver Abfälle über den gesamten Globus verteilt. In der Zwischenzeit wurde das US-Endlagerprojekt aufgegeben. Technische Probleme von ähnlichen Projekten in Finnland, Schweden, Frankreich, Belgien und der Schweiz verlangsamen die Entwicklung und das einzige funktionierende militärische Endlager in New Mexico in den USA wurde nach einem Unfall vorübergehend stillgelegt. Viele Länder entwickeln angeblich ausgeklügelte Programme für die Lagerung von radioaktivem Müll, setzen sie aber nicht in die Tat um. Obwohl kein Endlager in Betrieb ist, wächst der Berg dieser hochgiftigen Abfälle stetig an – und damit auch das Risiko.

Um das Pariser Abkommen einzuhalten und die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, haben wir keine andere Wahl, als das Zeitalter des Öls, des fossilen Gases und der Kohle zu beenden. Jedes Zehntel Grad zählt und wir müssen sofort handeln, um unsere Treibhausgasemissionen drastisch zu reduzieren.

Die Lösungen sind da und es liegt nun an den Politiker:innen, sie umzusetzen: Wir müssen die Energiewende einleiten und der einzige Weg dies zu erreichen, besteht darin, innerhalb der nächsten 10 Jahre massiv Energien mit geringem Treibhausgasausstoß zu entwickeln und aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen.

Allerdings sind nicht alle kohlenstoffarmen Energien gleichwertig. So nimmt in den jüngsten Szenarien des IPCC zur Energiewende die Rolle der Kernenergie zugunsten des Anteils von Solar- und Windenergie ab. Kann die Kernenergie die Klimaproblematik bewältigen?

Es muss jetzt und schnell gehandelt werden, aber die Kernenergie ist zu langsam.

Einer der größten Schwachpunkte der Kernenergie ist ihre langsame Verfügbarkeit. Im Durchschnitt vergehen 10 bis 19 Jahre zwischen der Planung eines Atomkraftwerks und seiner Inbetriebnahme, und zwei von drei Baustellen verzögern sich um bis zu mehrere Jahrzehnte!

Während die Termine für die Inbetriebnahme von Kernreaktoren immer weiter verschoben werden, sammeln sich die Treibhausgase in der Atmosphäre weiter an.

In Frankreich soll der erste von sechs EPR2-Atomreaktoren, die Emmanuel Macron bauen will, bestenfalls 2035 fertiggestellt werden. Dieser Zeitplan ist jedoch sehr unrealistisch und kann nicht eingehalten werden. Es ist vernünftiger, davon auszugehen, dass der erste EPR2 nicht vor 2040 in Betrieb genommen werden kann.

Der Weg, die Emissionen schnell zu reduzieren

Auf neue Atomreaktoren zu setzen bedeutet, zu akzeptieren, dass keine personellen und finanziellen Mittel zur kurzfristigen Emissionsminderung mobilisiert werden und dass man sich während der (zu langen) Bauzeit dieser Anlagen in die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern mit hohem CO₂-Ausstoß begibt. Umgekehrt sind erneuerbare Energien und eine Politik der Energieeffizienz wirksame Lösungen, um die Emissionen viel schneller zu senken.

Um mithilfe der Kernenergie die derzeitigen globalen Treibhausgasemissionen um etwa 10 % zu senken, müssten weltweit über 1000 neue Kernreaktoren in Betrieb genommen werden. Selbst bei dem rasanten (und völlig unrealisierbaren) Tempo von einem neuen Reaktor, der ab heute pro Woche in Betrieb genommen werden würde, wäre dies erst nach 2040 der Fall! Der Beitrag der Kernenergie zur Erreichung der Kohlenstoffneutralität bleibt also gering und völlig aus der Zeit gefallen.

Dutzende oder gar hunderte Milliarden Euro für den Bau von Reaktoren auszugeben, die bestenfalls erst in 15 bis 20 Jahren Energie produzieren werden, bedeutet, dass so viel Geld nicht in die unmittelbare Reduzierung von Emissionen investiert werden kann: Renovierung von Wohnungen, Eisenbahn- und Fahrradinfrastruktur, erneuerbare Energien für die Industrie und Haushalte, eine klima- und umweltgerechte Landwirtschaft.

Wenn wir weiterhin alle unsere Hoffnungen auf die Kernenergie setzen wollen, lenkt dies in gefährlicher Weise von den Klimazielen ab, zumal die Vereinten Nationen die reichsten Länder auffordern, bis 2040 CO2-neutral zu werden. Um dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen, müssen echte Lösungen eingeführt werden. Dazu gehören Energieeinsparungen und der massive Ausbau erneuerbarer Energien.

Die Kernkraft beansprucht Wasserressourcen, welche in den nächsten Jahrzehnten knapp  werden könnten. Kernreaktoren müssen ständig durch einen Kühlkreislauf gekühlt werden, der mit kaltem Wasser gespeist wird, das aus dem Meer oder aus Flüssen in der Umgebung der Anlagen entnommen wird. Die Kühlung von Kernkraftwerken ist beispielsweise in Frankreich der größte Posten bei der Entnahme von Süßwasser und der drittgrößte Posten beim Verbrauch, nach der Landwirtschaft und Trinkwasser. Dieser Wasserverbrauch, der für den Betrieb von Kernreaktoren unerlässlich ist, ist vor dem Hintergrund der Klimakrise, in der Konflikte um die Wassernutzung bereits ausgebrochen sind und sich weiter verschärfen werden, umso besorgniserregender. 

Extreme Wetterereignisse, insbesondere große Dürreperioden, häufen sich und führen dazu, dass die Temperaturen der Flüsse steigen und die Wasserpegel sinken. Dies stellt eine erhebliche Bedrohung für die Kühlkapazitäten der Reaktoren dar. Der Großteil des zur Kühlung der Reaktoren entnommenen Wassers wird anschließend wieder in den Fluss zurückgeführt, allerdings mit einer viel höheren Temperatur als bei der Entnahme. Diese Zufuhr von warmem Wasser hat erhebliche und oft nicht ausreichend beachtete negative Auswirkungen auf die lokale Biodiversität. Die biologische Qualität der Flüsse und Küstengewässer hat bereits zum beachtlichen Fischsterben und ökologischen Zusammenbrüchen geführt. 

Ein schwerer strategischer Fehler

Die oben angeführten Argumente zeigen, dass es ein schwerer strategischer Fehler und eine katastrophale Art der Handlungsverzögerung angesichts der Klimadringlichkeit wäre, mitten in der Klimakrise auf die Kernenergie zu setzen.

Dieses Jahrzehnt ist entscheidend, um die globale Erwärmung zu begrenzen. Jetzt ist der Moment, an dem wir schnell und massiv handeln müssen.

Wir brauchen einen tiefgreifenden Systemwechsel, der in erster Linie auf unseren tatsächlichen Bedürfnissen basiert, mit einer besseren Verteilung der Ressourcen innerhalb der Bevölkerung. Eine Politik des sparsamen und effizienten Umgangs mit Energie, die der Verschwendung und dem übermäßigen Verbrauch von Energie ein Ende setzt und eine Energieproduktion, die auf erneuerbaren Energien basiert. Wir brauchen mehr Demokratie bei Energieentscheidungen und eine stärkere Einbindung der Bevölkerung auf lokaler Ebene.

Angesichts der klimatischen Notlage ist die Kernenergie ungeeignet. Wenn die Politik auf die Wiederbelebung dieser viel zu langsam einsetzbaren Energie setzt, wird genauso viel Geld nicht in den Ausbau erneuerbarer Energien sowie in Energieeinsparung und -effizienz investiert – und der Kampf gegen den Klimawandel wird gebremst

Darum sollten sich auch die Luxemburger Politiker:innen und Parteien gegen die Atomenergie und für eine effiziente Energiewende einsetzen.


Dieser Artikel wurde am 10.09.2023 in der Rubrik “Analyse und Meinung” des Luxemburger Wort veröffentlicht.